Lichtprinzessin
(Jennifer Sonntag)
Bildbeschreibung
[...]
Mit verzweifelt aufgerissenen Augen flehe ich mein Spiegelbild an, wieder sichtbar zu werden. Wo ist sie hin, die tanzende Prinzessin in ihrem leuchtenden Sonnenkleid? Zeig mir ihr stolzes Gesicht, ihr
wehendes Feenhaar, ihre leidenschaftlichen Lippen und hungrigen Augen. Vergötterter Spiegel,
ich flehe dich an, ich flehe auf Knien, ich weine, ich schreie, verdammter Spiegel, warum strafst du
mich? Ich hasse dich, ich hasse dich! Die Prinzessin ist verloren, du nimmst mich ihr, du nimmst mich
mir, für immer. Ich bin verloren… für immer. Ich blicke, ich starre, und ich sehe… NICHTS!
[...]
Herzlich willkommen im Kabinett der unsichtbaren Spiegel. Schau dich ruhig um, geschätzter
Gast. Begib dich auf die Suche nach deinem reflektierten "ICH". Du wirst es nicht finden,
nicht hier, denn all die Spiegel, die dich umgeben, sind tot. Egal wie aufmerksam du schaust, wie
angestrengt du deinen Blick in die leeren Rahmen mit dem gestorbenen Inhalt richtest, du wirst dich
nicht wieder finden. Du bist umgeben von Spiegelflächen aller Art, doch du kannst dich darin
nicht sehen. Bist du verunsichert, lieber Besucher? Was sagst du da? Du glaubst, es habe mit Magie
zu tun? Dann lass uns noch ein wenig weiterzaubern. Versuch doch einmal an dir herabzuschauen,
vielleicht kannst du dich wenigstens auf diese Weise erkennen. Wie bitte, du siehst dich auch jetzt
nicht. Ja, du hast recht. In diesem Kabinett kannst du dich selbst nicht erkennen, weder im Spiegel,
noch, wenn du an dir herabschaust. Vielleicht trägst du ja Harry Potters Tarnumhang, der
dafür sorgt, dass du unsichtbar wirst. Nein, so verhält es sich nicht, denn Harrys
Tarnumhang macht ihn auch für andere unsichtbar und du, lieber Gast bleibst für alle
deutlich zu sehen. Nur du kannst dich nicht mehr sehen, alle anderen erkennen dich gestochen
scharf. Sie beobachten dich, registrieren jede deiner Bewegungen, deinen verängstigten
Gesichtsausdruck, deinen Kaffeefleck auf dem Revers. Warum versuchst du auf deine Uhr zu
schauen? Wird es dir hier zu ungemütlich? Musst du weg? Tut mir leid, auch deine Uhr bleibt
für dich unsichtbar, hast du vergessen, du siehst nichts mehr an dir, nichts mehr von dir. Was
willst du denn jetzt mit dem Handy, du kannst doch das Display jetzt ohnehin nicht mehr nutzen und in
deinem digitalen Telefonbuch blättern. Displays sind etwas für Sehende. Nun werd doch
nicht gleich ungehalten. Das wird jetzt vielleicht für immer so sein und das wirst du akzeptieren
müssen. Dieses Kabinett hier ist nämlich nur der Anfang. Hast du es denn noch nicht
gehört? Es wird doch überall erzählt … Dein Spiegelbild ist für immer
verschwunden, verloren, fort. Du kannst gern losgehen und es suchen, ihm verzweifelt nachjagen,
nach ihm schreien. Es kommt nicht wieder. Wo läufst du denn hin? Ach so, das hab ich mir
gedacht, du versuchst dich außerhalb des Kabinetts wiederzufinden, in spiegelnden Fensterscheiben,
in den Pfützen am Boden, im Suppenlöffel. Vergiss es … Du bist fort, für immer fort.
Nun versuchst du, von einem beklemmenden Gefühl beherrscht, die Toilettenräume
sämtlicher Lokale nach Spiegeln zu durchforsten. Sie sind da, die Spiegel, in Hülle und
Fülle. Schließlich soll sich ja jeder darin sehen. Du doch aber nicht, das hatte ich dir doch
gesagt. Du brauchst deine Augen nicht vergeblich aufzureißen, davon wird es nicht besser. Du kannst
auch den kläglichen Versuch unterlassen, den Inhalt des Rahmens ertasten zu wollen. Ein
Spiegelbild kann man nicht ertasten. Du wirst nichts als blankes, kaltes Glas fühlen. Und denk
daran, alle anderen können dich sehen, also reiß dich ein wenig zusammen. Ach ja, und was ich
noch vergaß zu sagen … In der Welt der verschwundenen Spiegelbilder werden auch alle anderen
Abbilder verschwimmen. Nicht nur dein eigenes, sondern auch das deiner gesamten Umwelt.
Begreifst du es? Alles wird verschleiert sein … die Menschen, die Räume; du wirst von leeren
Leinwänden umgeben sein, die keinen Film mehr zeigen. Warum so panisch? Panik hat noch
keinem geholfen. Du glaubst noch immer, es sei Magie? Nein, es ist keine Magie. Ich sage dir, was es
ist: Es ist mein Leben.
Als mich mein Sehvermögen verließ, befand ich mich oft in flehenden Zwiegesprächen
zwischen mir und meinen reflektierten Abbildern. Ich war verzweifelt, als ich morgens aufstand, um
mein müdes Gesicht in der Frisierkommode zu begrüßen und es dort nicht mehr fand.
Wenn ich vor jenem "Spieglein, Spieglein an der Wand" stand, hatte ich das Gefühl,
jemand lauere hinter mir um mir die Luft zum atmen zu rauben. Mein sichtbarer Zwilling starb
qualvoll, meine optische Identität ging unter in einem schwarzen Moor. Ich suchte panisch mit
rasendem Herzen mein Antlitz. Augen, Nase, Mund … Wo waren sie hin? Meine Haare, meine
Hände, mein ganzer Körper … Alles verzerrte sich zu einem undefinierbaren Wirrwarr.
Was ich anfangs noch zu erkennen glaubte, entpuppte sich als Lüge. Mein Sehrest nahm
Proportionen und Relationen vollkommen verschoben wahr und ich entwickelte ein unrealistisches
Selbstbild. Ich erschien mir plötzlich zu dick, zu hässlich, zu unansehnlich. Mir fehlte der
Überblick über meine Optik. Der Spiegel konnte mir keine Sicherheit mehr geben, mir
kein angemessenes Abbild meiner Wirkung präsentieren. Gleichzeitig verlor ich die
Fähigkeit, mich mit anderen Menschen, insbesondere Frauen, zu vergleichen, mir Anregungen
zu holen, mich zu bestätigen. Mode und Trends sind wahrhaftig in erster Linie für die
Augen gemacht. Darüber hinaus bekam ich panische Angst vor dem Alter, denn ich würde
nicht mehr in der Lage sein, die ersten grauen Haare und Fältchen selbstständig zu
erkennen und zu vertuschen.
Die Künste der Frauen, bestimmte Problembereiche zu
kaschieren, würde ich nicht mehr beherrschen. Aber auch meine Jugend benötigte
optische "Kontrollgriffe", denn hier gab es genug Dinge, bei denen man die Augen
brauchte. Jeder Pickel im Gesicht wurde auf einmal zu einem unkontrollierbaren Schandfleck. Ich
entwickelte eine Art Panik vor den scheinbar alles durchschauenden Blicken der Sehenden. Ich kam
mir vor, als würden sie sich optisch auf jeden meiner Makel fixieren, als würden sie alles
Unperfekte an mir sehen, was ich nicht mit Hilfe meines Spiegelbildes beheben konnte. Dabei vergaß
ich, dass nicht alle Sehenden automatisch schöne Menschen sind und dass sehen können
kein Kriterium für guten Geschmack sein muss.
Immerhin, ich wusste von mir, dass ich so etwas wie einen Geschmack hatte. Ich besaß einen Stil,
den besaß ich schon immer, und an den glaubte ich. Dabei hatte ich den Vorteil, schon als Sehende
freiwillig außerhalb des gängigen Modediktats diverse Akzente gesetzt zu haben. Es
gehörte zu meiner Lebensphilosophie, nicht der Norm zu entsprechen, und dieses Bewusstsein
veräußerlichte ich mit meinen Outfits. Hier erlebte ich einen klaren Vorteil geburtsblinden
Menschen gegenüber, welche nie die Möglichkeit hatten, sich in der Vielfalt der Stile
umzusehen. Man muss eben erst einmal wissen, wie "normal" aussieht, um zu
entscheiden, nicht normal aussehen zu wollen. Eine Vielzahl der geburtsblinden Menschen, die mir
begegneten, waren entweder sehr konservativ oder sehr altmodisch gekleidet. Dies ist meist dann der
Fall, wenn ihnen kein Berater mit Zeitgeist und modischem Know-how zur Verfügung steht. Die
meisten blinden Menschen legen jedoch großen Wert darauf, gut gekleidet zu sein, eben
gesellschaftlich vertretbar. Man will über die Blindheit hinaus nicht noch andersartig
unangenehm auffallen. Deshalb sind Extravaganzen weniger häufig zu finden. Ich selbst trage
jedoch, ohne dabei geschmacklos zu sein, bewusst das etwas "Andere" an mir und
veräußerliche, was ich ausdrücken möchte, was ich fühle, was ich bin. Mein
Stil ist keine Provokation, sondern eine Attitüde.
Als ich noch sehen konnte, funkelte ich als Punk durch die Gegend. Meine Haare waren knallbunt,
vorzugsweise mit Neoneffekt, mussten die abartigsten Unfrisuren und viel Haarspray ertragen und
wurden zu allem Überfluss noch mit fransigen Tüchern verunstaltet. Ich war ein
Teenager, der alles dafür tat, bewusst nicht gut auszusehen. Meine Hosen waren mit
irgendwelchen Tarnmustern oder Batikeffekten versehen und die Risse, mit denen sie dekoriert
waren, fixierte ich mit Sicherheitsnadeln oder Zier-Nieten. An den Füßen steckten zerschlissene
Arbeiterstiefel, bei denen ich Gefahr lief, an der nächstbesten Ecke eine Sohle oder eine
Stahlkappe zu verlieren. Natürlich brauchte eine Punkerin auch eine dicke fette Lederjacke,
welche mit den Unterschriften der Clique oder Anarcho-Stickern gespickt war. Wer sich nicht mit
einem Edding darauf verewigt hatte, tat es mit Lackspray. Ketten und Hundehalsbänder hingen
überall an mir herum. Die sorgten dafür, dass ich als fünfzehnjähriges
Leichtgewicht im Wind nicht wegflog. Überall, wo die Haut ein Loch hatte, wurden Pearcings
durchgeschoben. Wo die Haut kein Loch hatte, wurde eines rein gemacht. Jeder Finger trug
mindestens einen böse aussehenden Ring und alles an mir rasselte und klapperte martialisch.
Ich war nicht interessiert an Schickimickis und nicht interessiert an meiner eigenen Schönheit.
Ich versteckte meine noch kindliche Weiblichkeit hinter einer rauen Punkfassade.
Das wandelte sich unter dem Einfluss der Gothic-Szene. Die Outfits wurden nun betont weiblich,
betont elegant und vor allem betont schwarz.
Nun lieber Leser, gib mir deine Hand, ich entführe dich in mein heiliges Reich und zeige dir, was
meine Kleiderschränke, Schmucktruhen und Schminkköfferchen so zu bieten haben.
Verweile noch ein wenig mit mir in der spiegellosen Welt. Alles, was ich für mein
"Styling" brauche, hat einen ganz bestimmten Platz. Das ist wichtig, damit ich alles wieder
finde. Auch wenn es noch so gut gemeint ist, da darf mir auch kein anderer reinpfuschen. Hängt
etwas am falschen Ort, such ich mich dumm und dämlich. Um so etwas zu vermeiden, hat jedes
Teil sein Häkchen, seinen Bügel, seine Schublade, seine Schachtel. Ganz rechts hinter
der Tür hängen die Tücher. Ich habe eine Menge davon. Sie sind aus Seide,
Organza, Samt, Spitze oder Wolle und tragen Perlen oder Stickmotive. Natürlich dürfen
auch die Federboas an dieser Stelle nicht fehlen. Ein Stück um die Ecke herum hängt
mein Schmuckbrett. Das ist eine Erfindung von mir. Es ist mit unzähligen Nägeln gespickt,
welche als Aufhänger für meine Schmuckstücke dienen: In der ersten Reihe die
Ringe, in der zweiten Reihe die Armbänder, in der dritten Reihe die Bauchtanzgürtel und
der Kopfschmuck, in der vierten Reihe die Ketten und Haarteile. Ich bin sehr streng zu meinen
Accessoires und achte darauf, dass jedes an seinem Nägelchen hängen bleibt. Manchmal
fällt ein Ring ab oder eine Kette verirrt sich zu ihrer Nachbarin. Das sorgt meist für
morgendliche Unausgeglichenheit, vor allem dann, wenn ich dringend auf Arbeit muss und nicht
Aufhänger für Aufhänger inclusive Teppichboden nach dem Gesuchten inspizieren
kann. Die Ohrringe wohnen übrigens in verschiedenen kleinen Schatullen.
Da es aber nicht genügt, sich mit Tüchern und Ketten zu dekorieren, fehlen nun noch die
Kleiderschränke. Des besseren Überblicks wegen hab ich zwei davon. Einen für
Taschen, Schuhe und Jacken und einen für das, was ich in einem Satz nicht fassen kann. So ist
das nun mal bei Frauen, jedenfalls bei manchen. Die Schubladen verbergen die
"diskreten" Stöffchen und die darüber liegenden Fächer alles, was gut
stapelbar ist. Das Heiligtum ist die Kleiderstange, welche bei mir unter ihrer Last hörbar
ächzt und stöhnt. Für einen Blinden wie mich, ist eine Kleiderstange sehr viel
praktischer als gestapelte Kleidung. Hier kann ich jedes Teil separat aufhängen und bequem
herausnehmen, ohne suchend einen ganzen Klamottenstapel zu zerwühlen. Außerdem erspare
ich mir das Zusammenlegen, welches oft eine für mich unkontrollierbare Faltenbildung bei
manchen Stoffen zur Folge hat. Auf der Stange gibt es eine klare Ordnung. Links hängen die
Kleider, mittig die Röcke (erst kurz, dann lang) und rechts die Oberteile, unten drunter dann die
Korsagen. Die meisten Stücke sind sehr aufwändig genäht, haben wallende
Ärmel, sind weit schwingend oder detailverliebt. Da jedes Teil seine Besonderheiten hat, kann
ich es leicht herausfühlen.
Auch das Badezimmer beherbergt eine Vielzahl an Wesentlichkeiten fürs Zurechtmachen. Hier
stehen sie in Reih und Glied, die Stylingprodukte, und auch diesmal hat wieder alles seinen festen
Platz. Tuben, Fläschchen und Dosen sind auf verschiedene Korbsysteme verteilt, alles was zum
Frisieren nötig ist, schlummert in einer Schublade (Haargummis in verschiedensten
Ausführungen, Röschen zum Anstecken, Spangen, Strähnchen,
Effektkämmchen usw.). Auf einem langen Regal haben sich die Lippenstifte aufgestellt (erst der
weinrote, dann der brombeerfarbene, dann der schwarze mit Glitterpartikeln). Gleich daneben
befinden sich die selbsthaftenden Strasssteinchen und die Vampirzähne zum Aufkleben. Den
Abschluss bilden meine mindestens 666 Sorten Parfüm, denn Styling bedeutet für mich
auch interessant zu duften.
Soweit die Vorbereitung. Nun geht’s zur Sache … Zunächst muss ich mich entscheiden, in
welches Outfit ich heute schlüpfen möchte. Frauen experimentieren gerne, und so bin ich
mal Fee und mal Hexe, mal Ladylike und mal Girly, mal seriös und mal zwielichtig. Und wenn ich
nur mal kurz mit dem Hund vor die Tür gehe, tut's eher das sportliche Stöffchen. Zu Hause
bin ich total unkompliziert und schlüpfe liebend gern ungeschminkt in was Bequemes.
Mir wird oft die Frage gestellt, wie das mit dem Anziehen so funktioniert. Ernüchternd muss ich
sagen, dass dies relativ unspektakulär ist. Was der Sehende mit den Augen bewältigt,
ersetzen für mich meine strikte Ordnung und der Tastsinn. Will ich z. B. irgendwelche
Netzstrümpfe anziehen, muss ich dahin greifen, wo sie liegen, und dann mit den Händen
auswählen, ob ich die mit der Spinnennetzoptik, die mit den Blümchen oder die mit dem
Glanzeffekt wünsche. Wie man sich in dieses Strumpfzeugs reinfummelt, findet jede Frau
irgendwann raus, egal ob blind oder sehend. Solls dazu ein kurzer Rock sein, wird nun ertastet
welcher von den Fünfen genehm ist. Wie man einen Rock anzieht, ist auch jedem klar, der einen
trägt. Zum Schluss kommt vielleicht noch eine Korsage dazu und ein paar hohe
Schnürstiefel und dann ist schon mal die Grundlage gegeben. Ich wurde kürzlich gefragt,
woher ich wisse, wie rum die Schuhe müssen. Auch das kann man fühlen. Erscheinen sie
ziegenfüßig, müssen sie andersrum. Spätestens am Fuß merke ich es dann
endgültig. Hilfe beim Anziehen ist also absolut unnötig. Natürlich gibt es
Schnürungen und Reißverschlüsse, an die man schlecht rankommt, weil sie auf dem
Rücken angebracht sind. Aber das Problem haben auch sehende Frauen und sie müssen
notfalls den Schatzi zum Zumachen rufen. Nun muss nur noch der Schmuck angelegt werden. Auch
hier ist das Fingerspitzengefühl oberstes Gebot. Die Hände wählen aus, was
gebraucht wird, und legen dann das passende Geschmeide an.
Weiter geht es dann mit der Frisur. Frisieren ist Handwerk, also fühlbar. Ich habe jedenfalls noch
nie erlebt, dass Augen Zöpfe flechten. Ich habe also im Gefühl, ob ich mir einen
Pferdeschwanz, eine Hochsteckfrisur, oder eine Wuschelmähne aufs Haupt fabriziere. Ob's
gerade sitzt, muss mein Tastempfinden beurteilen. Wenn ich es so haben will, klemm ich mir noch
irgendwelchen verspielten Schnickschnack an mein Flechtwerk und bin zufrieden. Zum Färben
brauch ich Hilfe. Meine Haare sind sehr lang und ich würde vermutlich die gesamte
Wohnungseinrichtung unfreiwillig istanbulviolett tönen, wenn kein kontrollierendes Auge parat
wäre. Wenn ich mit aufwändigen Haarteilen arbeiten will, dann muss ein Profi ran. Das
müsste er aber auch bei einer "Gucki"-Frau, denn es ist eine wahre Wissenschaft,
sich eine gekonnte Kunsthaarfrisur aufs Köpfchen zu basteln.
Was nun noch fehlt, ist der Tuschkasten im Gesicht. Schminken ist wohl das einzig problematische
Detail beim Stylen. Hier wären funktionierende Augen eine echte Hilfe. Der Lippenstift ist dabei
nicht die größte Hürde. Ich erspüre mit dem Stift die Konturen des Mundes und
fühle, wenn ich über die Linie gerate. Was ich nicht merke, ist, wenn die Farbe im Laufe
des Tages oder Abends verwischt. Das passiert meist beim Essen oder Trinken. Ich rate jeder blinden
Frau, vorher mit einem Taschentuch die Farbe zu entfernen. Dann verteilt man sie nicht unkontrolliert
am Tassenrand. Oder man trinkt aus einem Strohhalm und "vertilgt" nur kleine Snacks, die
die Lippen nicht berühren (Nüsse, Weintrauben). Dann kann man davon ausgehen, dass
die Farbe im Rahmen bleibt. Wer unsicher im blinden Schminken ist, sollte erst mal mit einem
farblosen Pflegestift üben. Obwohl ich mich selten mit dem Lippenstift vertue, fühle ich
mich ohne Spiegel nach wie vor unsicher und frage in regelmäßigen Abständen meine
Begleitung, ob alles noch richtig sitzt.

Die Augen im blinden Zustand exakt zu schminken, ist nahezu unmöglich. Da kann man
üben, bis man schwarz wird. Mascara, Eyeliner, Kajal, Lidschatten … Das muss wirklich passen
wie die Faust aufs Auge. Das Gefühl erkennt nicht, ob der Strich auf der einen Seite länger
ist als auf der anderen, ob drei Wimpern zusammenkleben, ob der Pinsel alle Stellen getroffen hat. Da
man ja gewöhnlich zwei Augen besitzt, muss man absolut symmetrisch arbeiten und da
stößt man ohne optische Koordination an seine Grenzen. Ähnlich kompliziert ist auch das
gleichmäßige Auftragen von Make-up. Man muss es aus verschiedenen Perspektiven
betrachten, bei unterschiedlichem Licht, um sicher sagen zu können, dass keine Schatten oder
Flecken entstanden sind. Ja, es gibt Kosmetikprodukte, die relativ unkompliziert aufgetragen werden
können. Aber auch das macht den abschließenden prüfenden Blick in den Schminkspiegel
nicht überflüssig. Selbst Frauen, die sich im Schlaf schminken können, brauchen
eine flüchtige visuelle Rückversicherung. Ich habe das Glück, im Moment noch
relativ faltenfrei zu sein und hin und wieder eine talentierte Frauenhand mit Schminkpinsel zur
Verfügung zu haben, aber der Gedanke daran, meine Ausstrahlung und vor allem mein Altern
nicht optisch mitverfolgen zu können, macht mir Angst. Ich empfinde es schon jetzt als
Belastung, mich nicht allein nachschminken zu können, mir nicht wie jede andere Frau auf dem
Damenklo vor dem Spiegel das Näschen neu pudern zu können. Immer wieder muss ich
mir mühevoll die Augen der Sehenden ausleihen. Somit liege ich ständig auf der Lauer,
weiß nicht, ob irgendwas verwischt ist, muss einen passenden Moment oder eine diskrete Nische
abpassen, um jemanden zu fragen. Dabei passieren mir seltener Patzer als einer "Gucki"-
Frau. Aber bei ihr wäre ein verwischter Lidstrich etwas ganz Unspektakuläres, bei mir
würde es aufgrund meiner Blindheit das große Thema sein. Hat eine sehende Frau ein Loch in
der Strumpfhose, würde jeder wissen, dass sie eben einfach eine Laufmasche hat, nicht mehr
und nicht weniger. Bei mir sagen die Leute: "Ach guck mal die Blinde, sieht nicht, dass sie ne
Laufmasche hat, das ist ja traurig, da weiß sie gar nicht, wie sie rumläuft, ob man es ihr sagen
sollte? Ist ja vielleicht auch egal, sie sieht's ja eh nicht …". Jedes natürliche Missgeschick
wiegt durch die Blindheit noch schwerer und fällt mehr auf als bei jedem anderen. Somit steigt
der Druck, als Blinde eben perfekt aussehen zu müssen.
Eine Kleinigkeit sei vielleicht noch erwähnt, nämlich die Fingernägel. Ich lass mir auf
meine "Kratzinstrumente" einmal monatlich verschiedene Designs auftragen und sie mit
Acryl härten. Fingernägel sind nicht durchblutet und wenn man so will unempfindsame
Materie. Der Nagel kann nicht spüren, ob der Lack gleichmäßig verteilt ist und deshalb
funktioniert das Lackieren nicht blind. Meine Hände sind großen Belastungen ausgesetzt, da sie
für mich sehen müssen, und so brachen die unbehandelten Nägel schnell ab, wenn
ich damit vor ein Hindernis stieß oder hängen blieb. Ich lass mich also regelmäßig im
Studio "nageln". Der Nachteil an dieser Methode ist die Tatsache, dass jede fremde
kosmetische Unterstützung einen Mehraufwand für mich bedeutet, und dies natürlich
auch im finanziellen Sinne. Sehende Ladys können sich beispielsweise, wenn sie es wollen, die
Haare selbst färben, die Augenbrauen allein zupfen, oder eben die Nägel
eigenständig lackieren, ihr Hautbild ohne fremde Hilfe behandeln, die Wimpern selbst anstecken
usw. Ja, natürlich muss "Frau" das alles nicht haben, wenn sie es
überflüssig findet. Aber wer sieht, hat die Wahl und wer nicht sieht, soll sie nicht haben?
Und schließlich regt sich jeder dritte "Gucki" über den klassischen unansehnlichen
Blinden auf, der vollkommen geschmacklos daherkommt und dadurch erst recht
"behindert" wirkt.
Meine Kosmetikerin hat mir einmal erzählt, dass andere Kundinnen, die mich gesehen hatten,
ihr die Frage stellten, warum ich denn zur Kosmetik ginge, wenn ich doch das Resultat nicht sehen
würde. Diese Frage schockierte mich. Demnach müsste jede sehende Frau aufhören
sich zu pflegen, wenn sie einmal erblinden würde. Auf diese Weise müssten sich alle
Menschen gehen lassen, die ein Problem mit den Augen haben. Blindheit kann jeden treffen. Sie fragt
nicht nach, ob jemand Wert auf Schminke legt, ob jemand stylisch ist oder nicht, ob jemand aus
beruflichen Gründen gut aussehen muss oder nicht, ob er sich gern zurechtmacht oder nicht, ob
er ein Aschenputtel oder ein Superstar ist. Vielleicht muss ich an dieser Stelle deutlicher werden, ohne
es böse zu meinen. Ich spreche dich jetzt wieder ganz direkt an, lieber Leser, oder betont, liebe
Leserin. Auch für dich können jederzeit alle Spiegelbilder für immer verschwinden,
nicht nur in dieser Geschichte, sondern im ganzen Dasein. Würdest du dann ungepflegt
herumlaufen, wenn du es vorher gewöhnt warst, als attraktive Person auf die Straße zu gehen?
Nur weil ich selbst blind bin, kann ich nicht davon ausgehen, dass es auch der Rest der Welt ist. Ich
werde also gesehen, und ob ich will oder nicht, habe ich eine optische Wirkung. Dieser
Gesetzmäßigkeit muss ich entsprechen. Oft verlieren hochgradig sehbehinderte oder
erblindende Menschen das Gefühl für ihre Wirkung. Geburtsblinde Betroffene haben es
meist gar nicht erst entwickeln können. Mit dem eigenen Körper eine gewünschte
Aussage zu treffen, muss hier wie eine Fremdsprache gelernt werden. Auf die Bedeutung von Mimik
und Gestik muss ein von Kindesbeinen an blinder Mensch oft erst aufmerksam gemacht werden. Wer
nie mit dem Auge wahrnahm, ist häufig irritiert, wenn er spürt, dass ein Sehender wild mit
seinen Armen umherwedelt, um Dinge zu untermauern oder Richtungen zu verdeutlichen. Betroffenen
ist oft nicht bewusst, wie sie aussehen, wenn sie grimmig dreinschauen, ein konzentriertes Gesicht
machen oder grinsen. Da sich ein geburtsblinder Mensch die Verhaltensweisen seiner Mitmenschen
nicht abschauen kann, findet schon im Kindesalter kein optisch bestimmtes Nachahmungslernen statt.
Dieses Defizit spiegelt sich nicht nur in der Körpersprache, sondern eben auch im Styling
wieder.
Wer einmal sehen konnte, genießt den Vorteil, visuelle Erinnerungen zu besitzen. Diese helfen aber
auch nur sehr bedingt. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich begann, bevor ich erblinden
würde, mein Aussehen zu dokumentieren, um es mir für immer einzuprägen. Da sich
zu diesem Zeitpunkt mein Gesichtsfeld schon so stark verengt hatte, dass ich mein Spiegelbild nicht
mehr in meinen Stecknadelkopf-großen Fokus projizieren konnte, bezog ich mich auf Fotos und
Videoaufzeichnungen, da diese meinen Körper optisch verkleinerten. So konnte ich mich zwar
nicht mehr in meiner realistischen Größe wahrnehmen, mich aber in bestimmten Outfits auf
kleineren Abbildungen erkennen, da diese besser in mein winziges Gesichtsfeld passten. Ich
versuchte mir zu merken, wie ich in welchem Outfit, auf welchem Foto aussah, wie welcher Schnitt an
mir wirkte. Kaufe ich mir heute, nach meiner Erblindung, ein neues Teil, funktioniert das Fotoprinzip
leider nicht, denn die Bilder in meinen Erinnerungen zeigen ja nur die mir bekannten
Kleidungsstücke aus meiner Vergangenheit. Ich kann ja außerdem nicht davon ausgehen, dass
die Zeit stehen bleibt und noch mit 60 ein Kleid tragen, von dem ich weiß, dass ich mit 20 darin auf
einem Foto gut aussah.
Wer hochgradig sehbehindert ist, nimmt sich selbst oft wie in einem Zerrspiegel wahr. Je nachdem,
welcher Bereich im Auge betroffen ist, also um welche Einschränkung es sich handelt,
können vollkommen diffuse Sichteindrücke entstehen und eben auch ein falscher Eindruck
von der eigenen Person. Styling funktioniert bei Normalsehenden immer auch in Kombination mit
spiegelgeprobten Verhaltensweisen. Wer sich sieht, weiß, wie er ausschaut, wenn er lächelt,
wenn er verärgert ist oder sich arrogant gebärdet. Blinde und sehbehinderte Personen
werden in ihrer Wirkung oft fehlinterpretiert. Verfolgt ein Blinder z. B. sehr aufmerksam seinen Weg,
wirkt sein Gesichtsausdruck oft verbissen. Dabei ist er nicht verbissen seinem Mitmenschen
gegenüber, sondern nur extrem angespannt aus Angst, vom Pfad abzukommen. Erkennt ein
Sehbehinderter nicht aus der Distanz das begrüßende Zuwinken eines Bekannten, wird er von
diesem vermutlich als ignorant eingeschätzt. Es entstehen fatale kommunikative
Missverständnisse, die auf beiden Seiten aufgeklärt werden müssen.
Diese Aufklärung hat sich meine ehemalige Projektpartnerin Kirstin Wengler zur Aufgabe
gemacht. In ihren Körpersprache-Seminaren wies sie blinde und sehbehinderte Menschen auf
die Bedeutung von Styling und Körpersprache in der sichtbaren Welt hin und arbeitete
gemeinsam mit den Teilnehmern an deren optischer Wirkung. Dieses wertvolle Angebot wurde
dankend angenommen. Nachdem in spezifischen Trainingseinheiten die verschiedenen Arten des
Gehens, Stehens, Sitzens, Mimens und Gestikulierens verdeutlicht wurden, unternahmen die
Teilnehmer eine Outfit-Analyse. Frisuren, Schminke, Kleidung und Accessoires waren hier die
bestimmenden Themengebiete. Es wurde diskutiert, welche Schnitte zu welcher Körperform
passen oder eher unvorteilhaft erscheinen, zu welchen Anlässen welche Kleiderordnung
eingehalten werden sollte, was generell unter bestimmten Trendbegriffen zu verstehen ist oder was
den eigenen Typ ausmacht und positiv unterstreicht. Ein falsches Körperbewusstsein, bedingt
durch das fehlende Sehen, führt eben leider oft zu einem nachteiligen Kleidungsstil.
Zweifelsohne gibt es auch eine Menge sehender Zeitgenossen mit einem ausgesprochen schlechten
Geschmack. Aber wer die Chance hat, mit gesunden Augen in einen Spiegel zu schauen, hat seine
bestimmbare Optik letztlich selbst zu verantworten und entscheidet sich freiwillig dafür.
Natürlich legt nicht jeder Blinde Wert darauf, sich einer Farb- und Typberatung zu unterziehen,
wenn er zu dem steht, was er ist, aber er soll wenigstens die Wahl haben und eine Chance, etwas zu
verändern. Dabei ist allerdings nicht zu unterschätzen, dass blinde Menschen
gezwungenermaßen darauf angewiesen sind, ihren Kleidungsstil einer gewissen Praktikabilität
unterzuordnen. Was nützen die schicken Lackschuhe, wenn man sie bei der erstbesten
unfreiwilligen Konfrontation mit einer Bordsteinkante ruiniert oder wenn die dekorativ schwingenden
Rüschenärmel ständig im Suppenteller landen?
Inhalt der erwähnten Körpersprache-Kursreihe war außerdem die Inszenierung von
Rollenspielen. Die Teilnehmer trainierten bewusst den zweckentsprechenden und vor allem den der
Situation angemessenen Einsatz ihrer optischen Ausstrahlung. Auch wenn die Betroffenen die
Körpersprache ihres sehenden Gegenübers nicht erkennen, ist es entscheidend, dass sie
Vertrauen in ihre eigene Wirkung gewinnen und dass sie verinnerlichen, dass ihr sehendes
Gegenüber, bewusst oder unbewusst, nahezu jeden nonverbalen Ausdruck registriert. So wurde
beim nicht Sehenden ein Gefühl für die optischen Zustände der Gelassenheit, der
Anspannung, der Wut, der Enttäuschung, der Unsicherheit, der Überheblichkeit, des
Interesses oder Desinteresses usw. geschaffen. Jedes mimische Signal, jede Geste kann Bände
sprechen. Es gibt allein unzählige Formen und Variationen des Laufens und jede drückt
etwas anderes aus. Es besteht z. B. ein gravierender Unterschied darin, ob jemand geht, schreitet,
schleicht, stöckelt, bummelt, schlendert, tänzelt, stolziert, torkelt, trottelt, marschiert,
watschelt, trampelt, latscht, promeniert oder flaniert und ob er dabei Ballerinaschuhe oder
Wanderstiefel trägt.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass 70 Prozent der zwischenmenschlichen
Kommunikation nonverbal funktionieren und dass 80 - 90 Prozent der menschlichen Wahrnehmung
sich visuell vollziehen. Zu wirken heißt also in erster Linie gesehen zu werden, da kann ich mich als
Blinde sträuben und winden, wie ich will, kann von mangelnder Tiefgründigkeit der Augen
erzählen, kann von den inneren Werten, den wahren Werten schwärmen, kann über
die Unnötigkeit optischer Fassaden philosophieren. Solange es "Guckis" gibt, wird
eben geguckt und das prägt auch einen Blinden.
Nun denn … Ich entscheide mich nun für eine der vorher aufgeführten Gangarten,
nämlich für das Schreiten. Ich schreite dir entgegen, geduldiger Leser, und ich reiche dir
majestätisch meine Hand im Spitzensamt. Komm, lass uns zu einem Spiegel gehen… Kannst du
dich nun wieder sehen? Ja, du kannst es und aus deinen Augen kullern Glückstränen.
Aber vergiss nicht, nicht bei jedem kehrt das Spiegelbild zurück. Hüte deines wie einen
teuren Schatz, danke ihm, dass es dich ganz selbstverständlich überallhin begleitet, wenn
du es nur wünschst.
Aus dem Roman "Ninette"
(Oliver Baglieri)
[…] Oh, lieber Serge, weißt du wie es ist, ein Dasein zu führen, in dem die Spiegel leerer nicht sein können, in dem das Wasser sich weigert, dein Ebenbild zu reflektieren? Henri nun erlöst mich aus dieser Welt und ich habe Grund, ihm mehr als dankbar zu sein. Er sprengt die Ketten, welche die Naturgesetze um Wesen meiner Art gespannt haben. Ein Wesen ohne Gesicht, lieber Freund, das doch war es, was ich selber war.
[…] Ja lieber Serge, lieber treuer Freund, der du mich besser kennst, als jedes andere Wesen, ja lieber Serge, nun endlich habe ich mir selbst gegenüber gestanden, ja, endlich nun habe ich mich selbst gesehen. Du erinnerst dich an meinen letzten Brief, da ich dir schrieb, Henry würde mich portraitieren wollen. Nun, wie soll ich schreiben, doch aber lieber Serge, die Ketten meiner Unfähigkeit, mir jemals selbst gegenüber zu stehen sind gesprengt, ich bin befreit aus dem gemeinsamen Joch mit all denjenigen, die ohne ein Bild über ihrer selbst doch stets in einem Käfig der Dunkelheit hausen und vergessen haben, dass auch sie sind, dass ihr Körper nicht nur aus einem unsichtbaren Gase besteht, sondern ein Wesen darstellt, das ebenso, wie jedes andere auch, gesegnet ist mit einem Mund, mit Augen, mit Ohren, mit einer Stirn, mit den Zeichen der Zeit, die sich in den Gesichtszügen abzeichnen, dass sie geschaffen sind aus Haut und Fleisch und Knochen, die ein jedes Wesen formen. Ja lieber Serge, ich habe einem Wesen gegenübergestanden, dem ich selbst so fremd geworden bin, dass ich vergaß, wie es aussieht. Denn, und dies wirst du schon erahnt haben, denn das Bild meiner selbst ist nunmehr vollbracht. Henry nun hat mir ein Geschenk gemacht. Ein Geschenk, dass mich im Inneren meiner Seele betroffen und glücklich gemacht hat, welches mir mehr als nur geholfen hat, mich selbst zu erkennen. Ich bin, lieber Serge, ich bin und erkenne mich selbst. Die Spannung und Erwartung, die sich in mir während der Sitzungen bei Henry aufgestaut hatten, sind der Selbsterkenntnis gewichen, obgleich ich lügen müsste, würde ich schreiben, dass ich nicht selbst arge Zweifel hatte, das Bild jemals sehen zu wollen. Wer war ich denn, lieber Serge? Ein Niemand, ein Gesichtsloser, ein Schatten, der selbst keinen Schatten warf, eine Materie, die jede Form von Licht ablehnte, der nunmehr aber wieder belebt wurde.
[…] Henry legte Hand an mich und hat mich neu erschaffen, während er gleichzeitig ruhig auf mich einsprach, mir die Hemmungen nahm, die ich ihm gegenüber seltsamerweise nie zum Ausdruck gebracht habe, und mich im Lichter- und Farbenmeer seiner Empfindung und Sichtweise meiner Person verewigte, ein Abbild von mir zauberte, das mich herauslöst aus der Welt der Dunkelheiten und mich wie einen jungen starken Baum inmitten des Lebens und unter seiner eigenen Sonne pflanzte.