Jonny Blue
(Lena Valeitis)
Blue, Blue, Blue Jonny Blue, alle singen deine Lieder
Blue, Blue, Blue Jonny Blue, und die ganze Welt hört zu.
Er wuchs auf ohne Freunde, denn keiner wollt spielen mit einem,
der blind war, wie er.
Und er saß meist zu Hause, die Jungen da draußen,
die riefen bloß hinter ihm her.
Sie riefen :" Blue, Blue, Blue Jonny Blue,
welche Farbe hat die Sonne?"
Blue, Blue, Blue Jonny Blue. Kinder können grausam sein.
Auf der alten Gitarre, die ihm jemand schenkte,
da spielte er, sie war sein Freund.
Seine Lieder, die klangen nach Hoffnung und Freude
und manchmal als ob jemand weint.
Und er sang: Blue, Blue, Blue Jonny Blue
Welche Farbe hat die Sonne?
Blue, Blue, Blue Jonny Blue,
und die Kinder hörten zu.
Und bald spielte, keiner so wie er.
Seine Lieder, die gingen den Menschen ans Herz.
Und er malte Farben aus Musik
und vergaß bald seinen Schmerz.
Und bald kamen zehntausend zu seinen Konzerten,
denn er schenkte ihnen die Kraft,
an die Zukunft zu glauben, im Dunkel des Lebens,
er hatte es selber geschafft.
Oh, Jonny Blue, Blue, Blue Jonny Blue,
und sie kamen immer wieder.
Blue, Blue, Blue Jonny Blue,
keiner spielt so schön wie du.
Blue, Blue, Blue Jonny Blue,
alle singen deine Lieder.
Blue, Blue, Blue Jonny Blue,
und die ganze Welt hört zu.
Der sehende Mitmensch irrt, wenn er glaubt, blinde Menschen kennen keine Farben. Einer Person, die "wie ein Blinder von der Farbe redet" wird unterstellt, keine Vorstellung von dem zu besitzen, was sie zu artikulieren versucht. Es wird also im Allgemeinen davon ausgegangen, ein solcher Zeitgenosse habe keine Ahnung, wovon er spricht. Dabei müssen Farben für blinde Menschen nicht zwangsläufig leere Worthülsen bleiben.
Geschätzter sehender Freund, ich lade dich herzlich ein, mit mir gemeinsam ein wundervolles buntes Bild zu kreieren, so farbenfroh wie das Leben eben ist. Auch wenn mein Gemälde etwas anders aussehen wird als deins, wird es kein Richtig und kein Falsch geben. Das Verständnis von Farbe ist immer subjektiv. Wenn Farben auf jeden Menschen gleichermaßen wirken würden, gäbe es ja keine individuellen Lieblingsfarben. Die Wirkung eines Farbbegriffes unterliegt nicht ausschließlich der optischen Wahrnehmung. Und nun schau hin, ich tauche meinen Pinsel in die Farbtöpfe und kleckse dir einen kunterbunten Erklärungsversuch:
Grundsätzlich unterscheidet man in geburtsblinde und späterblindete
Menschen. Da beide Personengruppen über einen jeweils andersartigen
Erfahrungs- und Erkenntnisschatz verfügen, differieren auch die jeweiligen
Vorstellungswelten. Ein von Geburt an blinder Mensch hat wahrlich noch nie eine Farbe mit den Augen
erfasst, wenn man davon ausgeht, dass er über keinerlei restvisuelle Potentiale
verfügt. Wenn er also das Wort "Rot" hört, wird er sich nicht
das tatsächliche Abbild einer roten Ampel vorstellen können. Aber der
Begriff "Rot" ist nicht allein ein optisches Symbol, sondern auch ein
sinnbildliches. Die Worthülle "Rot" lässt sich also mit Inhalt
füllen, welcher einer bestimmten Bedeutung entspricht. Erfährt ein
geburtsblindes Kind z. B. in einem spezifischen situativen Rahmen einen Farbbegriff,
so wird dieser von ihm bedeutungsentsprechend inhaltlich behaftet. Wenn jemand
sagt, er sehe rot, erscheint ihm die Welt ja auch nicht plötzlich optisch in Blut
getränkt, und nur weil Rot die Farbe der Liebe ist, sieht man jene Liebenden
nicht buchstäblich in einer wabernden roten Wolke durch den Park spazieren,
und die berüchtigte rosa-rote Brille klemmt auch keinem der beiden wahrhaftig
auf der Nase. Wird ein Wort häufig in einem bestimmten Zusammenhang
genannt, dann ordnet man es diesem Kontext zu; das tut eben auch das
geburtsblinde Kind. Es lernt zu verstehen, dass "Rot" Gefahr bedeuten
kann, dass die Sirene der Feuerwehr "Rot" klingt, aber auch dass
"Rot" romantisch ist und nach Rosen duften kann oder Süße
ausstrahlt und nach Erdbeereis schmeckt. Und so fühlt sich dunkelblau eben
manchmal eher schwer wie der Wintermantel der Großmutter oder spät wie die
Nacht an, während "Hellblau" so klingen kann wie zwitschernde
Vogelstimmen unter dem freundlichen Himmelszelt des Tages. Und dann gibt es
wieder ein "Blau", das rauscht wie das Meer. Wenn aber ein Mensch als
"Blau" bezeichnet wird, erscheint er nicht als Schlumpf, sondern hat einen
über den Durst getrunken. Farben werden also zu assoziativen Konstrukten,
man verbindet etwas mit ihnen. Diese inneren Verknüpfungen sind bei jedem
Menschen, auch bei Sehenden, absolute Unikate, da jede Persönlichkeit das
Ergebnis einzigartiger Emotionen, Motivationen, Kognitionen und der
Phänomene ist, die sich daraus entwickeln. Menschliches Verhalten und
Erleben ist somit immer bunt, muss bunt sein, und niemand wird seine Landschaft in
den Farbtönen eines anderen darstellen können. Natürlich dient die
optische Farbwahrnehmung in hohem Maße der Orientierung, sie warnt,
schützt, zieht an oder schreckt ab, signalisiert und symbolisiert, und
natürlich besitzt jeder Sehende eine allgemeingültige Vorstellung von
dieser Art der Zeichensprache, die ein Blinder nicht spontan durchschauen kann. Da
die Welt von Sehenden für Sehende gestaltet ist, erlebt der visuell
Eingeschränkte demzufolge ein erhebliches Defizit, aber davon auszugehen,
dass er keine Vorstellung von den für ihn nicht sichtbaren Dingen entwickeln
kann, ist zu kurz gedacht. Freilich wird diese Vorstellung eine abstrakte sein, eine
diffuse, aber sie wird der Wirklichkeit des Betroffenen entsprechen und sich in ein
Sinnvolles kognitives Muster einreihen. So haben Umfragen ergeben, dass die Farbe
"Gelb" häufig mit warmem Sonnenschein auf der Haut verbunden
wird, "Braun" mit modrigem Waldboden, "Grau" mit
ungemütlichem Regenwetter, "Orange" mit fruchtigem
Apfelsinenaroma, "Grün" mit frisch gemähtem Rasen,
"Rosa" mit flauschigem Plüsch, "Weiß" mit
Reinheit", "Lila" mit Lavendelduft, "Blau" mit Himmel und
Meer, "Rot" mit Leidenschaft usw.
Um einem früherblindeten oder geburtsblinden Kind peinliche Momente zu
ersparen, sollten Metaphern unbedingt aufgeklärt werden, denn sie werden
sonst mit der Vorstellung von wahren Gegebenheiten vermischt. Auch wenn
"Gelb" die Farbe des Neides ist, lernt der nicht Sehende natürlich
auch hier zu begreifen, dass neidische Menschen nicht automatisch von der
Gelbsucht heimgesucht werden und dass ein schrilles knalliges
"Türkis" sich nicht durch einen grellen Schrei oder einen lautstarken
Paukenschlag ankündigt und dass nicht alle Frauen, die Erika heißen, auch
erikafarben aussehen. Die Problematik der Sinnbilder lässt sich aber vor allem
bei blinden Kindern auch auf andere Redewendungen übertragen. Wenn man
z. B. behauptet, dass das "Auge" mitisst, muss man nicht
zwangsläufig seine Kartoffelsuppe zum Verzehr in eben jenes Auge schaufeln.
Eine geburtsblinde Bekannte erzählte mir, dass sie als Kind davon ausging,
dass Sehende tatsächlich mit den Augen zu essen vermögen, sie konnte
sich ja nicht mit Hilfe visueller Beobachtungen vom Gegenteil überzeugen.
So, und nun greife ich zu einem anderen Pinsel und zaubere noch mehr Strukturen
und Perspektiven hervor. Wie bereits erwähnt, gibt es ja da noch die
Späterblindeten. Das sind jene Zwischenweltler, zu denen ich mich selbst
zähle. Menschen wie ich gehören, ohne eingebildet klingen zu wollen, zu
denen, die die Medaille von beiden Seiten betrachtet haben, mit dem äußeren
und dem inneren Auge. Unsere Vorstellungskraft ist vielfältiger als die der
Sehenden oder Geburtsblinden, denn wir tanzten auf beiden Hochzeiten und
durchkämpften beide Kriege. Ein umfassenderes Bild der Dinge zu besitzen,
heißt aber nicht, dass das irgendetwas einfacher macht, im Gegenteil. Unser Gehirn
kann sich nicht auf einem der beiden Zustände ausruhen, wir sind stets und
ständig Sehende, die nicht blind sein können und Blinde, die nicht sehen
können. Wir sind zerrissen, da uns beide Welten geprägt haben, und wir
müssen aus zwei verschiedenen Sprachen eine neue kreieren. Ja, und auch
die lieben Farben machen es einem da nicht immer leicht. Natürlich bin ich
froh, auf meine optischen Erfahrungen zurückgreifen zu können, aber
jeder Gedanke daran erinnert mich an den Tod eines geliebten Sinnes. Ich habe sie
betrauert, meine Farben, und ich habe sie immer wieder aus den tiefsten
Kellerlöchern meines Bewusstseins gewühlt, um ihren Zauber nicht zu
vergessen. Es tut weh, permanent mit Dingen konfrontiert zu sein, die man verloren
hat, und die sehende Welt konfrontiert gnadenlos, so als würde man einem
Verhungernden sein unerreichbares Lieblingsessen hinter Gitterstäbe stellen.
Der nicht Sehende muss die Spielregeln der Optik kennen, ohne selbst direkt
mitspielen zu können. Blinde Menschen passen sich oft sprachlich den
visuellen Orientierungsmustern der Sehenden an, um sich leichter verständlich
zu machen. So präge ich mir beispielsweise die Haarfarben meiner
Arbeitskollegen ein, um gezieltere Auskünfte geben zu können. Wenn ich
einem Sehenden eine ihm unbekannte Person beschreibe, werde ich nicht beginnen,
ihm den Körpergeruch oder den Klang der Stimme des Gesuchten zu
verdeutlichen, sondern ich werde ihm sagen: "Frau Ferch ist die kleine
Rothaarige. Ich gehe fest davon aus, dass es meinen Gesprächspartner
schwer irritieren würde, wenn er auf die Frage, wer Herr Walter ist, die Antwort
bekäme: Das ist der Mann mit dem attraktiven Händedruck, nicht zu fest,
aber auch nicht schlüpfrig, leicht behaarte Finger, meist angenehm lauwarm,
seine Stimme enthält eine dezent erotische Schwingung, etwas rauchig, aber
sein Duktus wirkt sehr sauber, geradezu imponierend, wobei sich sein
Körpergeruch irgendwo zwischen leicht ledrig, mit einem Hauch von Axe und
flüchtigen Spuren der letzten Raucherpause bewegt. Da verkünde ich
doch lieber: "Herr Walter ist der Typ mit dem flaschengrünen VW";
und so werde ich wesentlich besser verstanden, wenn ich mein Wort an einen
Augennutzer richte. Umgekehrt würde sich wohl kaum jemand die Mühe
machen, für mich die akustischen, taktilen oder olfaktorischen Attribute einer
Person zu beschreiben.
Ich erlebe immer wieder, dass die Leute erstaunt darüber sind, dass ich weiß,
welche Farbe mein Nagellack , mein Pullover oder meine Parfümflasche hat.
Wenn ich mir bewusst etwas Farbiges anschaffe, frage ich gezielt nach den
optischen Eigenschaften des entsprechenden Gegenstandes. Habe ich vor meiner
Blindheit keinen neongrünen Nagellack bevorzugt, werde ich es auch hinterher
nicht tun und eher nach dem brombeerfarbenen verlangen. Diverse Informationen
schnappe ich gelegentlich auf und speichere sie ab, z. B. die Farbgebungen von
Lebensmittelverpackungen. Somit muss der Sehende auch nicht irritiert sein, wenn
ich nach der roten Coladose oder der goldenen Keksrolle frage. Hin und wieder liege
ich natürlich falsch und stelle mir Gegenstände konsequent in einer
anderen Farbe vor, erfahre aber dann, Monate oder Jahre später, dass die
Realität irgendwie so ganz anders aussieht. In meiner Welt besaß z. B. mein
ehemaliger Dosenöffner tagein, tagaus blaue Griffe, aber in der Wirklichkeit der
Sehenden waren sie gelb.
Eine wertvolle Hilfe für das Training meines Farbgedächtnisses sind
meine bunten Edelsteinchen. Ich habe ein Faible für diese Dinge und ich
benutze sie als Eselsbrücken. Als ich noch sehen konnte, saß ich mit den
Steinen oft in der Sonne und versuchte, während ich allmählich
erblindete, ihr Schimmern, Glitzern und Glänzen zu erkennen, um niemals zu
vergessen, wie die Eigenschaften "glitzern", "glänzen"
und "schimmern" aussehen. Ich betrank mich am
"Schillerieren", "Floreszieren" und "Labradorieren",
an Mustern, Schattierungen, Marmorierungen, um sie für immer in meinem
Bewusstsein einzuschließen. Jeder Stein strahlte seine Farbe in mich hinein und ich
prägte mir die entsprechenden haptischen Erkennungsmerkmale dazu ein. Und
immer, wenn mich die Angst beschleicht, ich könnte eine Fassette im Laufe der
Blindheit vergessen haben, nehme ich mir meine Schatztruhe vor. Und da finde ich
sie wieder: die violetten Amethysten, die grünen Aventurine, die roten Rubine,
die glasklaren Bergkristalle, die gelben Zitrine, die blauen Sodalithe, die orangenen
Karneole, die schwarzen Onyxe.
Was es bedeuten kann, Farben anders zu sehen, können interessierte
Gäste in meinen Seminaren erfahren. Im Rahmen meiner
Informationsveranstaltungen in der "Sensorischen Welt" des BFW Halle
versuche ich, den normalsichtigen Teilnehmern die Dimensionen der
Farbwahrnehmung zu verdeutlichen. Mit Hilfe eines manipulierenden Lichteffektes ist
es möglich, eine gravierende Farbfehlsichtigkeit zu simulieren. Besonders
überzeugend wirkt dieser Effekt bei der Verkostung von Lebensmitteln. Den
nun nahezu farbenblind gewordenen Probanden gelingt es nur schwer, eine
zutreffende Vorstellung von dem zu entwickeln, was sie verzehren. So kann die
Partytomate nicht mehr von der Weintraube, der Apfelsaft nicht vom Sekt, der Lachs
nicht von der Geflügellyoner und der Pfirsich nicht vom Erdbeerpudding
unterschieden werden. Die Koordination zwischen Sehen und Schmecken wird
erheblich verunsichert, und auch die Geruchs- und Tasteigenschaften werden irritiert.
Lasse ich Kindergruppen unter dem Einfluss der Farbfehlsichtigkeit mit bunten Stiften
arbeiten, entstehen Zeichnungen voller unpassender Farbeigenschaften. Die
Bäume tragen blaue Blätter, der Himmel wird pink und die grünen
Schafe stehen auf einer violetten Wiese. Auch die farbliche Zusammenstellung von
Kleidung wird erschwert und unsere üblicherweise normalsehenden Probanden
wählen nicht selten im Selbstversuch unzumutbare Kompositionen aus.
Erscheint die Umwelt grau in grau, gibt es keine farbigen hinweisgebenden Aha-Effekte,
z. B. bei Verkehrs- oder Warnschildern, Informationstafeln oder
Leitsystemen. Selbst in ganz alltäglichen, lebenspraktischen Situationen
hemmen fehlende Farbgebungen die Orientierungsfertigkeit. Möchte man z. B.
Bananen kaufen, sucht das Auge unterbewusst nach gelben Erscheinungen. Auch
die Wahrnehmung von Konturen und Kontrasten wird bei fehlender Farbgebung
gestört. Ein farbfehlsichtiger oder farbenblinder Mensch steht somit vor einer
nicht zu unterschätzenden Kompensationsanforderung, einmal ganz zu
schweigen von einem blinden Menschen, dem zusätzlich auch noch jede
andere optische Kontrolle fehlt. Ein ratsames Hilfsmittelchen kann da ein
Farberkennungsgerät sein, welches mittels Sprachausgabe die jeweilige
Farbnuance präzise ansagen kann. So lässt sich z. B. der blaue
Aktenordner vom Chef ausfindig machen, die bedruckte Seite des Geschenkpapiers
erkennen oder die Weiß- von der Buntwäsche unterscheiden. Außerdem ist es
möglich, diverse Textilien mit einer Tastmarkierung zu versehen. So
könnten z. B. alle blauen Kleidungsstücke ein verstecktes rundes
Knöpfchen als Erkennungsmerkmal tragen, alle roten ein herzförmiges,
alle braunen ein dreieckiges usw.
Seit der Ausstrahlung einer "Wetten Dass"-Sendung kursiert in den
Köpfen der Zuschauer die Idee, dass Blinde in der Lage sind, Farben zu
fühlen. Eine nicht sehende Wettkandidatin hatte damals eine Auswahl an
Kleidungsstücken mit Hilfe des Tastsinns farblich zuordnen können. Dies
ist allerdings nur möglich, wenn es sich um bekannte Textilien handelt.
Prägt man sich die taktilen Eigenschaften des Kleiderschrank-Inhaltes in
Kombination mit den dazugehörigen Farben ein, verknüpft man eben,
dass z. B. der Rock mit den Falten der rosa-geblümte ist. Ich erkenne all meine
Kleidungsstücke an ihren Tastmerkmalen, am Bund, am Ärmel, am
Kragen, am Schnitt, am Material, am Knopf, an der Schnalle oder am Reißverschluss
und ich weiß um die Farbgebungen der Outfits, weil ich diese bei der Anschaffung
erfragt habe. Es ist jedoch unmöglich, die Farbe unbekannter Erscheinungen
zu ertasten. Eine rote Seidenbluse z. B. fühlt sich vollkommen anders an, als
ein roter Wollpulli. Noch einmal: Nein, Blinde können keine Farben
erfühlen, aber sie können ihnen bekannte Erscheinungen (z. B. Textilien)
farblich einordnen, wenn sie es trainieren.
Nun denn, du geschätzter Nutzer deiner Augen, gibt es noch offene Fragen
oder haben dir meine Pinselstriche ein verständliches Bild skizziert? Ich habe
das Gefühl, dass du dich noch immer fragen wirst, woher ein schon immer
blinder Mensch denn aber nun wissen kann, wie ein Regenbogen aussieht, in welch
bunten Fassetten er erscheint. Hier hilft vielleicht ein Experiment, welches ich mit
meinen Seminarteilnehmern oft unternehme. Das Wort "Regenbogen" ist
für einen geburtsblinden Menschen ein zunächst leerer Begriff, so als
würde man dich, lieber Sehender, mit einem Wort konfrontieren, unter dem du
dir nichts vorstellen kannst. Wenn du z. B. die Begriffe "Blörg" oder
"Gnarf" liest, wirst du vorerst vergeblich versuchen, in deinem Kopf
irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der dir verrät, was hinter diesen Undingen
stecken könnte. Erst wenn du die Begriffe regelmäßig in einem
bestimmten Kontext erleben würdest, könntest du sie zu einer inneren
Vorstellung formen. Immer, wenn also von einem Regenbogen gesprochen wird,
kommt beim Unwissenden eine neue Ahnung davon hinzu, was mit dieser
Erscheinung gemeint sein könnte und in diese Ideenfindung spielen alle
vorhandenen Sinneseindrücke, Stimmungen, Gefühle,
Beweggründe und Denkprozesse mit hinein.
Und nun überreiche ich dir unser beider Gemälde. Wenn du deine Augen
schließt, wirst du es sehen. Erkennst du meine Signatur am rechten unteren Rand
unseres Kunstwerkes: weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie das Ebenholz?