Von Traumfängern und Augensternen

Porträt Jennifer Sonntag als Elfe von Agy Reschka


Du bist noch immer an meiner Seite, geduldiger Leser? Solltest du es tatsächlich geschafft haben, mich ein ganzes Buch lang zu ertragen, fühle ich mich sehr geschmeichelt. Ganz ehrlich gesagt, hätte ich es nicht so lange mit mir ausgehalten. Deine Gesellschaft hingegen war mir überaus angenehm. Ich bin dir unbeschreiblich dankbar dafür, dass du mir innerhalb deines Bewusstseins einen Raum bereitgestellt hast, welchen ich mit meinen Schilderungen möblieren durfte. Die Faszination des Unsichtbaren wird nun für immer Teil deiner Wirklichkeit sein, auch wenn du glücklicherweise einer von den "Davongekommenen" bist und auch die sichtbare Welt genießen kannst. Nun möchte ich deine geschätzte Aufmerksamkeit aber keinesfalls überstrapazieren, nicht dass du noch von mir träumst. Beim Thema Traum würde ich allerdings gern noch ein wenig mit dir verweilen, denn die Frage, wie blinde Menschen träumen, steht Zweifels ohne ganz weit oben in der langen Liste der Unklarheiten. Deshalb habe ich uns diesen Leckerbissen bis zum Schluss aufgehoben.

Ich selbst kann in meinen Träumen noch sehen, wobei ich auch dort zunehmend beginne, über Hindernisse zu stolpern oder die Nummer der Straßenbahnlinie nicht zu erkennen. Mein Unterbewusstsein versetzt mich innerhalb meiner Traumwelten in den Zustand vor meiner Blindheit zurück, in welchem meine Sehbehinderung sich schleichend anzudeuten begann. Die Verarbeitung des visuellen Verlusts schien in meinem Fall um mehrere Jahre verzögert zu sein. Manchmal sehe ich mich in meinen Träumen als kleines Mädchen, links und rechts ein Zopf, in der Schule sitzen. Auch wenn ich die Dinge um mich herum sehen kann, ist es mir aber unmöglich, das Tafelbild oder den Inhalt meines Hausaufgabenheftes zu erkennen. In anderen Träumen finde ich mich in Modeboutiquen wieder, in denen ich zwar die Kleidungsstücke auf den Stangen optisch vernehme, aber ihre Farben nicht zuordnen kann. Hin und wieder nehme ich, vor allem in romantischen Träumen, die Blicke von Männern wahr, sehe aber den Rest ihres Körpers nicht. Ja, ich gebe es zu, ich träume von Klamotten und Männern. Hast du etwas anderes erwartet, lieber Leser? Einen Blindenstock benötige ich im Traum übrigens nicht und von Punktschrift habe ich dort auch noch nie etwas gehört.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jeder Mensch seine Träume so empfindet, wie er auch seine persönliche Wirklichkeit erlebt. Wer in seiner Wahrnehmungstätigkeit vom Sehen geprägt war oder ist, träumt auch sehend. Spät erblindete Menschen träumen noch eine sehr lange Zeit optisch, auch wenn sie im Wachzustand keine visuellen Informationen mehr registrieren können. Im Laufe der Zeit kann es jedoch geschehen, dass auch im Traum das Sehen nachlässt. Da das Sehzentrum des Gehirns nicht mehr regelmäßig für die Verwertung von Seheindrücken gebraucht wird, verblassen auch die visuellen Erinnerungen. Bei jedem Menschen vollzieht sich dieses optische "Vergessen" ganz spezifisch, denn kein Hirn ist geprägt wie ein zweites. Einige Späterblindete berichten z. B. davon, nur noch schwarz-weiß zu träumen, weil sie die Farben nicht mehr memorieren können, andere vergaßen ganze gegenständliche Erscheinungsformen aus der verlorenen optischen Umwelt. Im Gegensatz dazu rücken Träume in den Vordergrund, in welchen kompensierende Komponenten wie Gespräche oder Bewegungsabläufe zu tragenden Elementen heranwachsen. Zu diesem Thema befragte blinde Menschen bestätigen, dass sie sich zwar daran erinnern, in einer Traumsituation mit jemandem geredet zu haben oder einen Weg entlanggegangen zu sein, aber keine Vorstellung davon besitzen, wie die Person oder der Ort um sie herum aussahen. Konflikte, welche mit einer Erblindung einhergehen, werden sich auch in den Träumen widerspiegeln. Wer aufgrund seiner Blindheit im Alltag auf Berührungen, Geräusche, Geruchs- und Geschmacksempfindungen angewiesen ist, wird auch im Traum gelegentlich auf diese Sinneseindrücke zurückgreifen.

Natürlich können blinde Menschen in ihren Träumen nicht nur hören, fühlen, schmecken und riechen, sondern auch agieren. Unabhängig davon, ob ein Träumer spät erblindet oder geburtsblind ist, haben seine "nächtlichen Ausflüge" eine Handlung. In ihren Träumen können Nichtsehende natürlich auch Dinge tun, die im normalen Leben nicht möglich sind, z. B. Fliegen, Autofahren oder auf dem Mond spazieren gehen. Wer träumt, egal ob sehend oder blind, kann innerhalb seiner Traumwelt Gefühle wie Angst oder Glück empfinden. Auch blinde Träumende erleben aktiv die Veräußerlichung ihres Unterbewusstseins. Trotz der fehlenden visuellen Vorstellungskraft ist ein Mensch in der Lage, in seinen Träumen zu denken, etwas zu ahnen oder zu fürchten, und sich gar zu erinnern. Manche Träume scheinen auch ausgesprochen wirr, manche brennen sich ein, andere werden wieder vergessen. Nicht selten können Menschen sogar in ihren Träumen träumen. Aktuelle wissenschaftliche Studien ergaben, dass einige geburtsblinde Probanden im Traum durchaus über eine Art optische Wahrnehmung verfügen. Anhand der im Schlaflabor aufgezeichneten Hirnströme der getesteten Personen war zu erkennen, dass die für die Verarbeitung optischer Sinneseindrücke zuständigen Bereiche der Hirnrinde während des Träumens aktiv sind. Das heißt, dass manche von Geburt an blinde Menschen über die anderen Sinneskanäle so viele Informationen über die spezifischen Merkmale von Gegenständen und Personen aufnehmen, dass ihr Gehirn selbstständig eine Art "Seheindruck" daraus gewinnt. Diese Traumbilder konnten teilweise sogar von den Probanden in Zeichnungen wiedergegeben werden, allerdings sind diese in ihrer Qualität nicht mit denen von Sehenden zu vergleichen. Erstaunlicherweise war in einigen "blinden" Träumen auch jener Hirnbereich aktiv, welcher für die Verarbeitung von Farbwahrnehmungen zuständig ist. Wahrscheinlich können diese Träumer ihren selbst produzierten 'Seheindrücken' auch selbst gemachte Farben hinzufügen. Diese Farbeindrücke sind keinesfalls vergleichbar mit dem reellen Farbspektrum der sichtbaren Welt und entspringen der ganz persönlichen Farbpalette jedes Einzelnen.

Wieder sehen zu können scheint einer der größten "Träume" zu sein, die blinde Menschen hegen. Ja, auch auf meinem Wunschzettel ist diese Sehnsucht (oder sollte ich schreiben "Sehsucht") vermerkt. Dabei würde ich bei aller Freude zunächst erneut eine anstrengende Selbstfindung durchlaufen müssen, weil wieder alles anders wäre. Körper, Geist und Seele stünden vor einer großen Herausforderung, denn ich könnte ja nicht dort anfangen, wo ich vor meiner Erblindung aufhörte. Allerdings würde es mir als Späterblinderter wesentlich leichter fallen in das sehende Leben zurückzukehren als einem Früherblindeten. Bei einem geburtsblinden Menschen könnte man nicht einmal von Rückkehr sprechen, denn er würde sich plötzlich in einem Bewusstsein bewegen, in dem er noch nie war. So berichteten blind geborene Menschen von Albträumen, in denen sie auf einmal sehen konnten und sich ganz und gar nicht darüber freuten. In diesen Fantasien machte das Sehen Angst. Die Tatsache, dass die Welt sichtbar wurde, wirkte überwältigend, erdrückend und zerstörend. All die optischen Bilder führten zu klaustrophobischen Zuständen. Wände, Türen und Möbel schienen die Träumer zu erdrücken. Auch die Flucht in andere Räume machte es nicht besser. Sämtliche Gegenstände wirkten vollkommen überdimensioniert und bogen, reckten und streckten sich den Betroffenen entgegen. Der Boden bewegte sich in rasender Schnelle unter den Füßen und schien sich den Gesichtern der Schildernden zu nähern. Egal wohin sie sich drehten, es gab kein Entrinnen. Alles war plötzlich überpräsent und klebte den Träumenden an der Nase. Begrifflichkeiten und Funktionsweisen von Gegenständen gingen verloren. Es wurde von Badewannen berichtet, welche groß wie Schwimmbäder erschienen und Angst vor dem Ertrinken machten. Jede Erscheinung, der sich die Betroffenen näherten, schien Gefahr zu bedeuten. Selbst die Gesichter der Mitmenschen und das eigene Spiegelbild wirkten wie die Köpfe von riesigen Monsterkreaturen. Es schien keinen Reizfilter zu geben, denn alles war auf einmal da und unerträglich nah. Aber trotz der beklemmenden Enge schwang eine große Neugier mit. Wer sich traute das Haus zu verlassen, sah Autos groß wie riesige Lokomotiven oder Treppen, die trotz ihrer Entfernung wie bedrohlich nahe Abgründe zum Fall führten. Die Gleise der Straßenbahnen bäumten sich auf und die Träumer berichteten, dass sie den Asphalt so deutlich sahen, dass sie darauf zu liegen glaubten. Derlei Träume geben zu denken, denn in ihnen steckt ein großes Stück Wahrheit. Selbst wenn es funktionieren würde, einem blinden Menschen biologisch gesunde Augen zu schenken, würde dies noch längst nicht bedeuten, dass sein Gehirn in der Lage wäre, mit dieser Gabe umzugehen.

Der irische Philosoph William Molyneux, ahnte bereits vor mehr als 300 Jahren voraus, dass ein Mensch, welcher blind geboren wurde und plötzlich wieder sieht, eine Kugel nicht von einem Würfel unterscheiden könnte. Dies lässt sich am Beispiel eines mit drei Jahren erblindeten Kaliforniers belegen, welcher aufgrund einer Operation nach 40 Jahren sein Augenlicht wiedergewann. Im Jahre 2003 berichteten die Medien darüber, dass der sehende Blinde nach dem "erleuchtenden" medizinischen Eingriff tatsächlich Kugeln mit Würfeln verwechselte. Bei flächigen Erscheinungen, wie Kreisen oder Quadraten schien das Problem weniger groß als bei Körpern mit all ihren Schattenspielen und Lichtreflexen. Der Betroffene blieb trotz seiner neu gewonnenen Sehkraft darauf angewiesen, die ihn umgebenden Gegenstände zu berühren, um sie zu erkennen. Es fiel ihm schwer, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, da er plötzlich von allen Seiten undefinierbare Erscheinungen vorüberhuschen sah, von links wirre Schattengaukeleien, von rechts flirrende Farbspiele. Er hatte Schwierigkeiten, die sich nähernden Gebilde in Menschen, Tiere oder Bäume zu unterscheiden. Formen, Bewegungen, Dimensionen und Perspektiven musste er erst mühevoll differenzieren lernen. Sein Sehen musste also grundlegend neu aufgebaut werden. Auch die Zuordnung von Gesichtern blieb ihm optisch unmöglich. Er war nicht in der Lage, seine Frau von anderen Personen zu unterscheiden. Selbst wenn das Auge theoretisch fähig war, korrekte Bilder zum Gehirn zu senden, konnten sie nur unzureichend verarbeitet werden. Ähnlich vollzieht es sich bei Neugeborenen. Diese lernen allerdings nach und nach aus den sie umgebenden Sichtinformationen strukturierte Vorstellungen zu formen. Diese Hirnleistung ist immens hoch. Aus einem gut funktionierenden Blinden lässt sich jedoch nicht so einfach ein perfekter Sehender machen. Beschriebener Kalifornier konnte erst durch die Aktivierung anderer Wahrnehmungskanäle erkennen, ob sich vor ihm eine Coladose oder ein Pfirsich, eine Glühbirne oder ein rot gefärbter Haarschopf, ein Schatten oder eine Stufe befand. Auch seine eigene Gestalt hatte er sich anders vorgestellt. Von Banalitäten, wie seinen eigenen Fußspuren im Sand oder einem Webmuster auf dem Teppich war er in hohem Maße fasziniert. Er brauchte viel Zeit dafür, elementare Zusammenhänge zu erfassen. Dass man Staub sehen kann, beeindruckte ihn sehr. Seine optische Entdeckungsreise verglich er selbst mit einer Schatzsuche. Gesprächspartner anzuschauen fiel dem neuen Sehenden schwer, da er sich durch mimische und gestische Signale irritiert fühlte. Er musste wegschauen, um sein Gegenüber tatsächlich zu verstehen. Gesichter blieben für ihn fühlbare Reliefs. Ihm präsentierte Fotografien von vollkommen verschobenen Gesichtern, interpretierte er als nahezu normal.

Säuglinge sind bereits mit 2 Tagen dazu in der Lage, ein ihnen zugewandtes Augenpaar zu erkennen. Was sich ein Kind in den ersten Lebensjahren optisch erschließt, kann später nicht einfach wieder aktiviert werden. Ein über 40 Jahre blind gewesener Mensch wird trotz gelungener Operation vermutlich nie wieder diesen Status erreichen können. Die menschlichen Sinne und deren Koordination können sich nur im Zusammenspiel entwickeln und dieses vollzieht sich vermutlich in festgelegten Phasen. Wird eine Phase ausgelassen, bleibt der Schaden wahrscheinlich irreparabel. Der sehende Blinde bewegte sich noch Jahre nach dem operativen Eingriff in einem optischen Wirrwarr von Schemen und Flecken. Entfernungen und die Tiefe von Räumen konnte er schwer einschätzen. Seine eigene Hand erschien ihm reell größer als ein Auto, welches in der Ferne zu sehen war. Auf bewegte Bilder konnte er jedoch schneller reagieren als auf feststehende.

Bei aller Hoffnung in die Wissenschaft scheint das Bestreben, Blinde wieder zu Sehenden zu machen, von unüberbrückbaren Hürden in Frage gestellt. In den 60-iger Jahren wurde von einem blinden Mann berichtet, welcher sich durch sein neu gewonnenes Sehen erst recht behindert fühlte und schließlich in tiefen Depressionen starb, da er sein eigenes Gesicht und das seiner Frau nicht ertragen konnte. Andere Akten erzählen von Betroffenen, welche sich trotz ihres neu gewonnenen Augenlichtes zur besseren Orientierung lieber im Dunkeln aufhielten oder schwarze Sonnenbrillen trugen, um sich in ihr gewohntes Leben als Blinde zurückzuziehen.

Hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, lieber Leser, werde ich dir vermutlich nie begegnen, möchte ich doch meinen Augen Freiheit schenken und ihren Glanz nicht in tiefer Schwärze versinken lassen. In jedem von uns brennt ein Licht ohne Schalter, welches die Lampen der ganzen Welt nicht zu ersetzen vermögen. Das Feuer, welches jene Fackel entzündet, die uns im Dunkeln sehen lässt, ist in uns. Jede Seele besitzt einen leuchtenden Augenstern, der das Wesentliche zu erkennen vermag. Geschätzter Freund, kannst du spüren wie er funkelt, dein Augenstern? Pass gut auf ihn auf und lass ihn nicht verglühen…

Porträt Jennifer Sonntag als Elfe von Agy Reschka